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Magna Charta – Warum die Verfassung anständige Kerle braucht?

In: Das Vereinigte Königreich

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  • Christian Schnee

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Zusammenfassung Wer sich nach der Verfassung des Landes erkundigt, stößt auf ratlose Blicke und Achselzucken. Vielleicht erwähnt jemand König John und die Magna Charta. Rasch wird klar, dass sich die Suche nach dem Dokument, das die Grundprinzipien der politischen Ordnung ausdrückt und festschreibt, etwa die Rolle des Parlaments, die Gewaltenteilung oder die Unabhängigkeit der Gerichte, schwierig gestaltet in dem Land, das für sich reklamiert, die älteste Demokratie der Welt zu sein. Ein Grundgesetz, entwickelt und getextet aus einem Guss, wie wir es in Deutschland kennen, existiert nicht. Es ist eine relativ moderne Idee, systematisch in einem Dokument Gesetze, Regularien, Gewohnheiten und Konventionen zusammenzufassen, die gemeinsam definieren, welche Personen und Staatsorgane die Macht halten – etwa der Premierminister, der Monarch oder das Parlament. Die Franzosen und Amerikaner machten es vor im späten 18. Jahrhundert, der Zeit des Rationalismus, als Planung, Struktur und Systematik populäre Leitprinzipien nicht nur in Architektur und Gartengestaltung wurden, sondern auch bei der Organisation des Staates und des Verfassungsrechts. Im folgenden Jahrhundert gaben sich Italien und Deutschland eine Verfassung, zu einer Zeit also, als Menschen begannen, eine schriftlich fixierte Garantie ihrer bürgerlichen Freiheiten und demokratischen Rechte einzufordern. Die Geschichte des britischen Staates geht allerdings ins Mittelalter zurück, als sich niemand die Mühe machte oder es für nötig hielt, das Zusammenspiel der Verfassungsorgane und die Machtverteilung zwischen den Gewalten methodisch und umfassend zu definieren und strukturieren. Wer also die politische Ordnung verstehen will, der muss sich durch eine beachtliche Zahl von Einzeldokumenten arbeiten, etwa Gesetzestexte und Gerichtsurteile, die Normen setzen und verschieben, sowie Kommentare zu Konventionen und Präzedenzfällen von Gelehrten wie Walter Bagehot, Erskine May und Albert Venn Dicey, deren Arbeiten bei dem Thema längst zu den Standardwerken gehören. Verfassungsrang haben etwa die Parlamentsgesetze aus dem Jahr 1911 und 1949, in denen das Vetorecht des House of Lords eingeschränkt wurde. Das gleiche trifft zu auf ein Gesetz von 2005, das die Reform des Obersten Gerichtshofs vorsah (Bogdanor 2009). Spätestens in den 1990er-Jahren war auch nicht mehr zu übersehen, dass das Recht der Europäischen Gemeinschaft britische Gesetzgebung bestimmte und einschränkte und damit Teil der Verfassungsordnung geworden war (Norton und Jones 2018). Einen dramatischen Wandel hat im Verlauf der Jahrhunderte vor allem das Organ im Zentrum der politischen Verfassung erfahren: Die Monarchie. Ihre Rolle und Macht im Land war immer dann ein Thema, wenn sich ein Herrscher Vorrechte anmaßte und anderen Privilegien streitig machten. Dann wurde gedroht, gerungen, verhandelt und schließlich eine Vereinbarung aufgeschrieben. So etwa im Jahr 1215, als König John auf dem Thron saß und mit seiner Politik teurer und erfolgloser Kriege den Ärger der Barone, also der wichtigsten Steuerzahler, auf sich zog. Die revanchierten sich und legten John die Magna Charta Libertatum vor, zu Deutsch die große Urkunde der Freiheiten, die den König verpflichtete, die aristokratische Elite bei künftigen Entscheidungen zu konsultieren. Das Dokument verbietet zudem willkürliche Verhaftung, garantiert den Zugang zu einem Gericht und begrenzt die Lehnszahlungen an den Monarchen. Mit anderen Worten, die Urkunde definiert erstmals, was ein König tun durfte und was ihm verwehrt war. Um sich Ärger zu ersparen mit den Aristokraten des Landes, die immer wieder auf eine Begrenzung königlicher Macht drangen, bestätigten Johns unmittelbare Nachfolger auf dem Thron das Dokument (Vincent 2012). Ein direkter Weg zur demokratischen Regierungsform war es seither allerdings nicht. Im Gegenteil: Heinrich der VIII. und seine Tochter Elizabeth I. spielten ihre Macht brutal aus und gingen mit Kritikern rücksichtslos um. Ihre Nachfolger, James I. und Charles I. aus der Familie Stuart steigerten die Idee der königlichen Machtvollkommenheit so sehr, dass es zum Bürgerkrieg kam. Der demokratischen Regierungsform kam das Land erst wieder einen Schritt näher, als das Parlament sich zu einem Coup entschloss und den letzten König aus der Familie der Stuart, James II. durch Wilhelm von Nassau-Oranien, den Statthalter der Niederlande, ersetzte. Die neue, prominente Aufgabe, die sich der Niederländer mit seiner Ehefrau Mary, der Tochter des verbannten James II., teilte, war an Bedingungen geknüpft: Um absolutistischen Neigungen künftiger Monarchen vorzubeugen, drängten die Parlamentarier das neue Paar auf dem Thron einen Grundrechtskatalog zu unterschreiben, in dem der Vorrang des Parlaments gegenüber der monarchischen Gewalt festgeschrieben wurde ebenso wie die Redefreiheit seiner Mitglieder und freie Wahlen. Die Verfassungsrealität veränderte sich auch in den folgenden Jahren und Grund dafür waren nicht nur einzelne Verträge und Gesetze, sondern auch die Personen, deren Stärken und Schwächen, Aspirationen und Ziele die Machtbalance verschoben. So interessierte sich etwa Kurfürst Georg von Braunschweig-Lüneburg, der 1714 als George I. auf den englischen Thron kam, für die Staatsgeschäfte in seinem heimatlichen Hannover mehr als für Anliegen, die man ihm in London vorlegte. Sein Desinteresse provozierte ein politisches Vakuum, das zunehmend die Parlamentarier ausfüllten, während die Autorität und der Anspruch des Monarchen, das letzte Wort zu behalten, nur noch in der Theorie fortbestand. Der Status des Monarchen im Verfassungsgefüge nahm auch mit seinem Nachfolger George II. ab. Als schließlich der dritte George pflichtbewusst die Vorlagen des Kabinetts zu lesen forderte, war sein Lordkanzler, der 1. Baron Thurlow, angesichts dieser ungewöhnlichen Bitte irritiert und antwortete seinem König brüsk: Das Ansinnen sei vergeudete Mühe, schließlich würden Seine Majestät den Inhalt der Dokumente ohnehin nicht verstehen. Später befiel George III. der Wahnsinn, sodass die bei der Krone verbliebenen Regierungsgeschäfte an gewählte Politiker delegiert werden mussten – eine weitere Schwächung der verfassungsmäßigen Rolle des Monarchen, von dessen traditioneller exekutiver Funktion nicht mehr viel geblieben war. Der Trend setzte sich in späteren Jahren fort. George IV., bekannt für seine Verschwendung, Ess- und Trunksucht, galt unter seinen Höflingen als verachtungswürdig, feige, selbstsüchtig sowie gefühllos und machte sich bei öffentlichen Auftritten seiner Fettleibigkeit wegen zum Gespött des Publikums. Für Kabinett und Premierminister wurde der so diskreditierte Monarch zum entbehrlichen Partner (Baker 2005). Diese Marginalisierung der Krone – eine Umkehr im traditionellen Kräfteverhältnis der Institutionen – prägte die neue Verfassungsrealität des Landes. So war William IV., Georges Bruder, der 1830 auf dem Thron folgte, denn auch der letzte Monarch, dessen persönliche Ablehnung des vom Parlament favorisierten Kandidaten die Berufung eines Premierministers stoppte (Ziegler 1971). Seiner Nichte, Königin Victoria, gelang das nicht mehr. Ihr blieb es nur noch zu weinen, als ihr bevorzugter Regierungschef und einstweiliger Mentor, der 2. Viscount Melbourne, sein Amt in 10 Downing Street verlor: „Ich dachte wirklich, mein Herz würde zerbrechen,“ klagte die Königin, als sie die Nachricht erhielt (Hibbert 1985, S. 45). Im Sommer 1945 spürte George VI. die Begrenzungen, die jenseits von Krisenzeiten die Konventionen der ungeschriebenen Verfassung einem Monarchen auferlegten. Obwohl er Clement Attlees sozialistische Politik als Bedrohung betrachtete, musst er den Labour-Vorsitzenden nach der Niederlage der Konservativen zum Premierminister ernennen. Immerhin dehnte er seine konstitutionelle Rolle aufs äußerste, indem er Attlee überredete, Hugh Dalton nicht zum Außenminister zu ernennen. Dalton, der bereits die Koffer packte für seine Teilnahme an der Konferenz der Alliierten in Potsdam, galt dem König als suspekt, weil er als Sohn des Kaplans von Windsor mit seiner Mitgliedschaft bei Labour die eigene Klasse verraten hatte. So sah man es jedenfalls im Palast (Pimlott 1985).

Suggested Citation

  • Christian Schnee, 2022. "Magna Charta – Warum die Verfassung anständige Kerle braucht?," Springer Books, in: Das Vereinigte Königreich, chapter 7, pages 149-164, Springer.
  • Handle: RePEc:spr:sprchp:978-3-658-37388-7_7
    DOI: 10.1007/978-3-658-37388-7_7
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