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Reicher Süden, armer Norden – Die geteilte Nation

In: Das Vereinigte Königreich

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  • Christian Schnee

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Zusammenfassung Kelvin MacKenzie, der langjährige Herausgeber der Boulevardzeitung Sun hatte eine außergewöhnliche Idee. Eine Regionalpartei für den Südosten Englands sei nötig, fabulierte der Journalist. Für seinen Vorschlag stand die Lega Nord Pate, die für viele Jahre die Anliegen des wohlhabenden Norditaliens gegen die Habenichtse aus Kalabrien und Verschwender Siziliens vertrat. Der Vergleich mit Großbritannien drängt sich auf, findet MacKenzie. Was für Italien der Süden, ist für Großbritannien der englische Norden, Teile von Wales und Schottland, die im 19. und frühen 20. Jahrhundert als Rohstofflieferanten und Zentren der Industrieproduktion zu immensem Wohlstand kamen und bis heute an ökonomischem und gesellschaftlichem Niedergang leiden, den die De-Industrialisierung seit dem Zweiten Weltkrieg verursachte. Das erklärt, wieso in Nordengland wie im Süden Italiens für viele Jahre die Arbeitslosigkeit oberhalb des nationalen Durchschnitts lag. Die Schulaufsichtsbehörde ermittelte, dass in den nördlichen Regionen Englands die Qualität der Bildung an den Landesdurchschnitt nicht heranreicht. Dafür weisen die Gegenden nördlich der Midlands laut Statistikern deutlich mehr Raucher, Drogenabhängige, klinisch Übergewichtige sowie Schwangerschaften unter Teenagern auf als der Süden des Landes (Hancock 2021). Der Lebensstil wird als Grund dafür genannt, dass Bewohner von Blackpool, einem verwahrlosten Badeort in Lancaster, der seit seiner Glanzzeit vor dem Ersten Weltkrieg nur den unaufhaltsamen Abstieg kennt, eine um neun Jahre niedrigere Lebenserwartung haben als Einwohner des noblen Londoner Stadtteils Kensington (Abell 2019). MacKenzie verweist auf die Statistiken und meint, dass die vielen Gutverdiener, die vor allem in London und den umliegenden Grafschaften wohnen, eine eigene Stimme im Parlament brauchten, um zu verhindern, dass mit ihren üppigen Steuerbeiträgen Politiker den ungesunden Lebensstil in Bradford, Huddersfield und Glasgow finanzieren (The Economist 2012a). Seit der vormalige Redaktionsleiter der Sun diese Betrachtungen anstellte, hat sich niemand gefunden, der es für eine gute Idee hielt, mit einer Partei in den Wahlkampf zu ziehen, in deren Programm die Entlastung der Reichen im Süden und die Entsolidarisierung mit den Armen im Norden gefordert wird. Über diesen geografischen Kontrast diskutierten Journalisten und Regierungspolitiker schon lange, bevor sich MacKenzie mit seiner Polemik zu Wort meldete. Großbritannien ist ökonomisch ein tief gespaltenes Land und der Lebensstandard, die Erfolgsaussichten, selbst die Chance, gesund alt zu werden, hängen davon ab, wo jemand wohnt. Harold Macmillan hatte es kommen sehen. Als sich Großbritannien 1962 langsam von der Rezession erholte, schwor der Premierminister sein Kabinett ein, es müsse verhindern, dass „das Land zerfalle in zwei Nationen, einen armen Norden und einen reichen, überbevölkerten Süden“ (Fisher 2019). „Es könne nicht sein“, ermahnte der Konservative, „dass Schottland, der Nordosten oder irgendeine andere große Region dem Niedergang preisgegeben wird!“ Andernfalls „werden unsere Nachfolger uns Vorwürfe machen, wie wir den Viktorianern Vorwürfe machen dafür, dass sie Menschen in Slums haben leben lassen“ (Wood 2013). Wenn sich heute keine ausdrücklichen Vorwürfe an die Adresse Macmillans richten, liegt das nicht daran, dass er Erfolg hatte mit seinem Appell. Ihm wird verziehen, weil an der hoffnungslosen Aufgabe, die er sich seinerzeit vornahm, bereits seine Vorgänger und seitdem alle seine Nachfolger scheiterten. Von niemandem ließ sich der lange Abstieg der Volkswirtschaft des Nordens, der am Ende des Ersten Weltkrieges begann, stoppen. Investitionsprogramme und der Bedarf an Industriegütern während des Zweiten Weltkrieges verdeckten vorübergehend die ernüchternde Entwicklung, aufgehalten aber wurde sie nicht. Zwischen 1918 und 1962 ging der Anteil der Menschen, die im Nordosten, Nordwesten, Yorkshire und der Gegend um den Fluss Humber lebten, von 35 auf 30 Prozent zurück. Ein weiteres halbes Jahrhundert später war in diesen Gegenden nur noch ein Viertel der britischen Bevölkerung zu Hause. Es war die Umkehr der Migration des 19. Jahrhunderts, als Arbeiter aus dem Süden in die boomenden Industriestädte des Nordens gezogen waren (The Economist 2012b).

Suggested Citation

  • Christian Schnee, 2022. "Reicher Süden, armer Norden – Die geteilte Nation," Springer Books, in: Das Vereinigte Königreich, chapter 23, pages 445-461, Springer.
  • Handle: RePEc:spr:sprchp:978-3-658-37388-7_23
    DOI: 10.1007/978-3-658-37388-7_23
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